Vom ICH zum WIR – Zur Psychopathologie bürgerlicher Vergemeinschaftung

 

Durch Manipulation vor dem Blickstrahl des Ichs sorglich abgeschirmt, findet das Unbewusste in seiner Armut und Undifferenziertheit sich glücklich mit Standardisierung und verwalteter Welt zusammen.

Theodor W. Adorno

 

Der Versuch, das Problem der massenhaft verbreiteten Zustimmung zu Nationalismus, samt Rassismus und Antisemitismus, mit psychoanalytischen Kategorien zu erklären, löst bei so manchem revolutionären Materialisten bzw. mancher revolutionärer Materialistin nicht ganz unbegründet Unverständnis und Zweifel über die Sinnhaftigkeit des Unterfangens aus. Hat man nicht bei Marx gelernt, dass man bei der Kritik des Bestehenden von den gesellschaftlichen Verhältnissen ausgehen muss? Ist Individualität nicht eine rein gesellschaftliche Funktion? Ist eine Psychologisierung der oben genannten Scheußlichkeiten nicht politisch gefährlich und sogar antiaufklärerisch, da man ja von den Verhältnissen, den Imperativen von Staat und Kapital, absieht, ja sogar ablenkt? Läuft der Versuch nicht automatisch auf Exkulpierung der handelnden Täter und Täterinnen samt der gesellschaftlichen Verhältnisse, die jene hervorbringen, hinaus? Schließlich gilt: Wer von der Familie spricht, schweigt von Souverän und Kapitalverhältnis. Letztendlich schreibt ja auch Adorno beispielsweise: "Noch der vulgäre Materialismus, der den individuellen Reaktionsformen handfeste Profitinteressen zugrunde legt, hat recht gegen den Psychologen, der wirtschaftliche Verhaltensweisen von Erwachsenen aus ihrer Kindheit ableitet(...)."

Schreibt man letztlich bei einem solchen Versuch nicht sogar insgeheim den "wissenschaftlichen" Beipackzettel, den sich Politiker und Politikerinnen zurecht legen können, wenn es wieder mal darum geht, ein paar camouflierte Argumente für weitere gesetzliche Verschärfungen gegenüber Migranten und Migrantinnen vorzubringen und militante Rassisten weiter mit verständnisvollen Sozialarbeitern und fetzigen Jugendzentren zu überhäufen?

Wer so argumentiert, unterliegt aber genau jener Selbsttäuschung, die die bürgerliche Gesellschaft von sich selbst tagtäglich produziert. Er unterstellt selbstbestimmte, autonome Subjekte, deren Handlungen genauso durchsichtig wie selbstverständlich sind. "Die Überzeugung von der durchsichtigen Rationalität der Ökonomie ist eine Selbsttäuschung der bürgerlichen Gesellschaft nicht weniger als die von der Psychologie als zureichendem Grund des Handelns." Gerade Staat und Kapitalverhältnis sorgen also dafür, dass die Gesellschaft keineswegs so vernünftig eingerichtet ist, dass sie für alle Mitglieder ohne "pathische Projektion" einsichtig wäre. Das Ich, das durchaus persönlich und individuell ist, ist gleichzeitig allgemeinen gesellschaftlichen Zwängen und Fetischismen unterworfen, die seine eigene, durchaus vernünftige Funktion massiv untergraben. Das Subjekt ist in der bürgerlichen Gesellschaft "in sich antagonistisch (...), frei und unfrei." Die Kritiker und Kritikerinnen unterliegen also gleich mehreren Irrtümern. Keineswegs versucht die kritische Theorie des nationalen Wahns eine ontologische Ursprungsphilosophie zu begründen. Keineswegs wird der Versuch unternommen, Nationalismus aus der beschädigten Psyche der Menschen "herzuleiten". Vielmehr geht es darum, das bedrohliche Zusammenwirken von gesellschaftlichen Zwangsverhältnissen und individueller Regression aufzuzeigen. "(...) die radikale Psychoanalyse, in dem sie sich auf Libido als ein Vorgesellschaftliches richtet, (erreicht, Anm. T. O.) phylogenetisch wie ontogenetisch jene Punkte (...), wo das gesellschaftliche Prinzip der Herrschaft mit dem psychologischen der Triebunterdrückung koinzidiert." Die Kritiker und Kritikerinnen unterschlagen leider, dass die bürgerliche Gesellschaft tatsächlich in zwei Sphären zerfällt, die Sphäre der Herrschaft der unpersönlichen, gesellschaftlichen Zwangscharaktermasken und die Sphäre der davon abgespaltenen Privatheit. Individualität ist zwar der kapitalistischen Vergesellschaftung geschuldet, sie ist dennoch kein falscher Schein, sondern handfeste Realität. Adorno bezeichnet den individuellen Charakter als "ein System von Narben (...), die nur unter Leiden, und nie ganz, integriert werden. Die Zufügung dieser Narben ist eigentlich die Form, in der die Gesellschaft sich im Individuum durchsetzt, (...)".

Gerade die Erfahrungen mit nationalen Psychotikern und Psychotikerinnen zeigt auch, dass beim kollektiven Narzissmus keineswegs so trocken argumentiert wird, wie der materialistische StaatskritikerInnen dies unterstellen müssen. Denn so sehr der nationale Wahn auch dem Staat und den bestehenden gesellschaftlichen Zwangsverhältnissen dient, so wenig oft haben die Protagonisten und Protagonistinnen des nationalen Irrsinns davon eine Ahnung. Im Gegenteil; meist sehen sie sich selbst sogar als alles andere als im Einklang mit den herrschenden Interessen. Auch der Vorwurf des Selbstwiderspruchs und der Exkulpierungen zielen ins Leere. Denn das sich Begreiflichmachen eines Gegenstand ist keineswegs gleichbedeutend mit der Affirmation desselben. Und nur weil von Naturverhältnissen wie z.B. den menschlichen Trieben gesprochen wird, ist dies nicht gleichbedeutend mit der Postulierung unhintergehbarer Naturnotwendigkeiten, obwohl Freud an manchen Stellen seines Werks solchen Positionen durchaus Vorschub leistet.

Gegen den Vorwurf der Verleugnung eines freien Willens ist die Psychoanalyse ebenfalls zu verteidigen. Im Gegenteil; die Psychoanalyse hat zum Ziel genau jene Instanz des seelischen Apparates zu stärken, die sich den Bedrängnissen des Es und des Über-Ich widersetzten soll und damit verantwortliches Handeln erst möglich macht: "Wo Es war, soll Ich werden." Die Stärkung des Ichs ermöglicht es erst, zwischen Innen und Außen, also zwischen der individuellen Beschädigung (durch Verinnerlichung von Herrschaft) und ihrem allgemeinen, materiellen Grund zu unterscheiden. Freud selbst ist in seiner Bestimmung des Ichs und dessen Verhältnis zur Außenwelt ambivalent. Einerseits unterstellt er in seinen theoretischen Schriften ein unfreies, zur Selbstreflexion unfähiges Subjekt, andererseits muss er in seinen therapeutischen Ambitionen genau das Gegenteil unterstellen: Ein Subjekt, dass sehr wohl an der eigenen Selbstaufklärung interessiert und dazu fähig ist. Einerseits schreibt er dem Ich die Aufgabe der "Realitätsprüfung" und der Vermittlung zwischen Realität und Triebbedürfnissen zu, unterscheidet also deutlich zwischen dem Ich und einem jeweils konkreten Realitätsprinzip, andererseits meint er: "...auch die Soziologie, die vom Verhalten des Menschen in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psychologie. Strenggenommen gibt es ja nur zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, und Naturkunde." Durch die Behauptung, die Gesellschaft wäre kein separater, nicht-psychologischer Gegenstand verwischt Freud im letzteren Zitat wieder jede Differenz zwischen durchaus verschiedenen Modi in denen ein herrschendes Realitätsprinzip einem Individuum zusetzen kann.

Adornos dialektischer Begriff des Ich leistet an diesem Punkt genau die Vermittlung an der Freud selbst gescheitert ist. Er versucht jene Sphären aufeinander zu beziehen, die ansonsten vollkommen unvermittelt nebeneinander stehen, ohne die jeweiligen Differenzen zu eskamotieren. Gerade am Beispiel des autoritären Charakters und seinem Hang zum kollektiven Narzissmus, sprich Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, lässt sich dies deutlich veranschaulichen. Die Individuen der bürgerlichen Gesellschaft sind immer doppelt bestimmt: Als individuelles Ich im Freudschen Sinne einerseits, und als von einem konkreten, allgemein gültigen Realtitätsprinzip abgetrotzte Charaktermasken andererseits. "Der Begriff des Ichs ist dialektisch, seelisch und nicht seelisch, ein Stück Libido und der Repräsentant der Welt." Der Zusammenhang ergibt sich aus dem Verhängnis, in dem der gesellschaftliche Zwangszusammenhang jene Beschädigungen der Vereinzelten reproduziert und sie die ungelösten seelische Konflikte ihrer Sozialisation wiederholen lässt. "Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt." Der seelische "Wiederholungszwang" trifft sich mit der "Wiederholung des Immergleichen" (Adorno): Der ständigen Unterwerfung der Individuen unter die Imperative von Staat und Kapital.

 

Die Architekturen des autoritären Charakters

Die Theorie des autoritären Charakters entstand in den zwanziger und dreißiger Jahren in der Auseinandersetzung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung mit dem Erfolg faschistischer Massenbewegungen in Europa. Empirisch erforscht wurden die Phänomene des Autoritarismus schließlich in den USA anhand von Interviews, Auswertungen von Fragebögen und den Reden rassistischer, antisemitischer Agitatoren. Versucht wurde damit eine Transformation der gesellschaftlichen Bedingungen der Sozialisation und damit einhergehend der sozialen Charaktere zu fassen. Der Grund für diese Transformation lag in einem Wandel der Verhältnisse der kapitalistischen Reproduktion. Im Übergang vom liberalen zum organisierten Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts erfuhren die bürgerlichen Subjekte einen massiven Einschnitt in ihren Handlungsmöglichkeiten. War ein emphatischer Subjektbegriff, also die Vorstellung, dass die Menschen als freie und autonome Subjekte die gesellschaftlichen Verhältnisse meistern, bis dahin auch schon kaum mehr als ein gesellschaftliches Trugbild, so konnte zumindest (noch) eine kleine Elite diesen als reales Potenzial, und somit als allgemein gültiges Ich-Ideal, repräsentieren. Die zunehmenden Krisenerscheinungen, Folgen der Durchsetzung der kapitalen Verkehrsformen als "reellem Gemeinwesen" (Marx) der bürgerlichen Gesellschaft, sowie die zunehmende Verselbstständigung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses gegenüber den handelnden Individuen, die sich eben doch als austauschbare Charaktermasken erwiesen, ließen diese gesellschaftliche Fata Morgana jedoch endgültig zur Illusion werden. Diese Veränderung schlug sich auch auf die Familie als Sozialisationsinstanz nieder. In der Transformation von den persönlichen und unvermittelten Herrschaftsverhältnissen des Feudalismus hin zur modernen warenproduzierenden Gesellschaft entwickelten sich neue Formen der Herrschaft: Der bürgerliche Staat und das Kapitalverhältnis. Diese neuen unpersönlichen, auf abstrakter Allgemeinheit basierenden Herrschaftsverhältnisse entwerteten alle bis dahin relevanten gesellschaftlichen Instanzen, auch die patriachale Herrschaft samt ihrer Agentur der Familie. In diesem Transformationsprozess spaltete sich die Gesellschaft in die bereits oben genannten Sphären, Öffentlichkeit und Privatheit. Durch diese Spaltung wurde die Familie in ihrer unmittelbar ökonomischen Funktion als Vermittlerin sachlicher Autorität praktisch abgeschafft. "In vorkapitalistischen Produktionsweisen beruht die Produktion auf der Tradierung lebensgeschichtlich erworbener Erfahrung. Die Familien bedurften der Alten als Übermittler (...) sowie der Arbeitskraft der Kinder zur Sicherung der eigenen Reproduktion. In einer kapitalistischen Produktionsweise dagegen beruht die ökonomische Reproduktion wesentlich auf der technischen Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse (...) Durch die objektive Nutzlosigkeit der Alten für den Reproduktionsprozess ändert sich die Struktur der Familie, durch die ökonomische Funktionslosigkeit der Kinder verändert sich die Weise der Erziehung (...). Zunehmende Bedeutung bekam die Familie als Ort der seelischen Sozialisation, als Agentur in der sich Zärtlichkeit, Geborgenheit und seelisches Gleichgewicht herstellen sollen. Die Familie befindet sich damit in einer prekären Situation: Einerseits soll sie als eine geschützte Zone gegenüber dem gesellschaftlichen Zwang fungieren, in der die Eltern qua ihrer sachlichen Autorität dem Kind eine gelungene Sozialisation angedeihen lassen können, andererseits wird die dafür notwendige Grundbedingung, die tatsächliche und nicht mit übertriebener Gewalt aufrechterhaltene Autorität der Eltern, Stück für Stück untergraben. Die Folge dieses Verfalls der Familie sind Individuen mit einer Charakterstruktur, die für autoritäre Massenbewegungen und deren Propaganda äußerst anfällig sind. Ein neuer Sozialisationstypus setzte sich durch, denn die elterliche Autorität, die das Kind in der Lösung des Ödipuskomplexes verinnerlichen sollte, war nun selber massiv in Frage gestellt. Das Kind kommt dadurch in eine prekäre Situation: Zum einen ist es gezwungen die elterliche Autorität anzuerkennen, zum anderen erscheint diese Autorität als bloße Willkür, da die Eltern keineswegs mehr als Repräsentanten realer, gesellschaftlicher Macht wahrgenommen werden. Der Zwang, der von der Instanz ausgeht, die selber als ohnmächtig wahrgenommen wird, erzeugt einen kaum lösbaren Konflikt. Der verinnerlichte Zwang zum Triebverzicht erscheint unverständlich und muss trotzdem vollzogen werden um das Ziel, die Identifikation zur Bewältigung der Angst vor dem konkurrierenden, real übermächtigen gegengeschlechtlichen Elternteil zu erreichen. Dies erzeugt eine tiefgreifende Ambivalenz gegenüber Autoritäten und führt dazu, dass der autoritäre Charakter den Konflikt der ödipalen Situation nie ganz bewältigt. Er empfindet einerseits weiterhin einen tiefen Hass gegen die unterdrückende Instanz, andererseits ist er genötigt diese libidinös zu besetzten, um sich mit ihr identifizieren zu können. Der Akt der Identifizierung ist gleichzeitig ein Akt der Unterwerfung und der Treibunterdrückung. Dadurch wird die Triebunterdrückung selbst zum libidinös besetzten Vorgang. Diese Konstellation zeitigt den von Fromm beschriebenen "autoritär-masochistischen Charakter", seine hervorstechenden Eigenschaften bestehen in Opferbereitschaft, rigiden Moralvorstellungen, Projektivität und einer damit verbunden sozialen Paranoia. Als gesellschaftliches Subjekt löst der autoritäre Charakter den Ambivalenzkonflikt indem er eine sogenannte "Radfahrernatur" ausbildet. Er identifiziert sich mit den gegeben Autoritäten. Je strenger diese auftreten, um so besser gelingt die Identifikation. Die Aggression hingegen richtet er gegen alle, die gesellschaftlich als Opfer für diese konformistische Revolte freigegeben werden, oder als nicht zum eigenen Kollektiv gehörig angesehen werden.

Das Ich des Kindes, das sich durch die Verinnerlichung der Autorität und der Ablösung vom jeweils favorisierten Liebesobjekt erst zum autonomen Subjekt entwickeln sollte, bleibt in seiner Entwicklung gehemmt. Das Über-Ich, dass für das Kind nun keine unmittelbaren Repräsentanten mehr hat, wird mangelhaft internalisiert. Es bleibt unbewusst und veräußerlicht. Das Ich-Ideal, ebenfalls unbewusst, wird den gesellschaftlichen Zwängen – und somit den sie repräsentierenden Autoritäten – fast direkt angepasst.

 

Last Exit: Kollektiver Narzissmus

Die entscheidende Rolle bei der stabilisierenden Abwehr der Angst um die eigene Identität spielt für den autoritären Charakter jedoch der kollektive Narzissmus. Jeden Tag wird einem in der bürgerlichen Gesellschaft vor Augen geführt, dass man als Individuum in etwa genau so viel zählt, wie das eigene Einkommen im Vergleich zum BIP des jeweiligen Nationalstaates. Die bürgerliche Gesellschaft wiederholt also durch ihre ständigen Anpassungsüberforderungen die schmerzliche Erfahrung der Kränkungen des kindlichen Narzissmus. "Die Frühblüte des infantilen Sexuallebens war infolge der Unverträglichkeit ihrer Wünsche mit der Realität und der Unzulänglichkeit der kindlichen Entwicklungsstufe zum Untergang bestimmt. (...) Der Liebesverlust und das Mißlingen hinterließen eine dauernde Narbe, (...) den stärksten Beitrag zu den häufigen "Minderwertigkeitsgefühlen" der Neurotiker." Nicht unbedingt die tatsächliche Deklassierung und Entwertung, sondern die dauernde Möglichkeit einen beachtlichen Teil der Bevölkerung zum überflüssigen "Menschenabfall" zu erklären, zeichnet die kapitalistische Reproduktionsweise aus. Gleichzeitig kann das bürgerliche Subjekt die Zwangsjacke der Individualität, d.h. sich als Vereinzelte/r verwertungskonform und staatsloyal zu verhalten, auch nicht einfach abschütteln. Sie ist für die kapitale Vergesellschaftung unumgänglich. Da aber unter den Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion nicht das "gute Leben" der einzelnen Menschen, sondern die Selbstverwertung des Werts und Reproduktion des Kapitalverhältnisses als Zweck gesetzt sind, muss das Individuum das eigene Ich ständig narzisstisch besetzt halten und wird in diesem Narzissmus immer wieder aufs neue gekränkt. Denn am Ende eines Produktionszyklus ist alles wieder genauso ist wie zu Beginn. "Der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrachtet oder als Reproduktionsprozeß, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der anderen Seite den Lohnarbeiter." Die Mühen gehen also unvermindert weiter, ohne je Einsicht in die eigenen Lebenverhältnisse oder gar Sicherheit für die eigene Existenz zu bekommen. Das nur schwach ausgebildete Ich wird genau durch diese immer schwerer zu erfüllenden Anpassungsanforderungen ständig überfordert und in seinem Narzissmus gekränkt. Die damit verbundenen Kränkungen und Aggressionen kann der/die Autoritäre wiederum kaum anderweitig verarbeiten als in den oben genannten, konformistischen Varianten. Das bürgerliche Subjekt löst diesen Konflikt, indem es Teile seines Über-Ichs externalisiert und im Kollektivwahn versucht, die durch die empfundene Ohnmacht verursachte narzisstische Kränkung zu mindern. Freud vergleicht nicht zufällig die Massenbildung mit der Urhorde aus Totem und Tabu. Die narzisstisch Gekränkten formen sich zum Kollektiv der Zukurzgekommen, der "kleinen Männer". Der Führer einer solchen Massenbewegung fungiert dabei als unhintergehbare Autorität. In ihren Forderungen wendet sie sich nicht zufällig an den gesellschaftlichen Repräsentanten von handfester Souveränität, den Staat. Das autoritäre Kollektiv geht dabei allerdings über den traditionellen, trockenen Etatismus weit hinaus. Die Mitlieder der Masse verstehen sich vielmehr als eigentliches, als ursprüngliches Kollektiv, dem erst noch zu seinem Recht verholfen werden muss. Dies konveniert geradezu exzellent mit der legitimatorischen PR des bürgerlichen Nationalstaates, der seit je von sich behauptete eine Folge "natürlicher Gemeinschaften" wie Nation oder Rasse zu sein. Das Bedürfnis des bürgerlichen Subjekts nach unhinterfragbarer Identität, nach der sich die autoritären Charaktere sehnen wie die Fliege nach dem Misthaufen, wird aber ständig durch die Bedingungen der warenproduzierenden Gesellschaft verneint. Was von alleine nicht entsteht, muss auf andere Art und Weise hergestellt werden. Die Formierung des Kollektivs wird somit zum ständigen Gewaltakt gegen alle, die tatsächlich – aufgrund historischer und kultureller Entwicklungen oder eben politischem Zwang – zu diesen künstlichen "natürlichen Gemeinschaften" kaum dazu gehören oder halluzinierterweise durch ihre Ansprüche auf Individualität als "zersetzend" angesehen werden. Der Wunsch nicht zum Ausschussprodukt der Gesellschaft zu werden, äußert sich in militantem Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Das darin angelegte Bedürfnis nach Verfolgung und Gewalt dient dazu die eigene Identität zu sichern und sich über den Akt der Verfolgung als stets konformistisches, staatsloyales und kapitalproduktives Subjekt zu erweisen bzw. zu fühlen.

Exkurs: Der autoritäre Charakter und das Geschlechterverhältnis

Die modernen bürgerlichen Gesellschaften sind durch die Herausbildung unpersönlicher Herrschaftsmechanismen, eben Staat und kapitaler Verwertungsprozess, gekennzeichnet. Ebenso aber auch durch den Zerfall in die oben genannten, gesellschaftlich getrennten Sphären. In diesem langwierigen und durchaus kontingenten historischen Prozess der Herausbildung dieser Form der Vergesellschaftung gab es jedoch Gewinner und Verliererinnen. Aufbauend auf der patriachalen Ordnung der vorangegangenen Gesellschaften wurden Frauen aus allen gesellschaftlich relevanten Bereichen der Herrschaft verdrängt. Dies hatte für die Möglichkeiten der seelischen und charakterlichen Entwicklung von Frauen weitreichende Folgen. Im Über-Ich, der gesellschaftlichen Repräsentanz im Individuum, setzte sich ein Ich-Ideal durch, dass Frauen auf ein konformes Verhalten entsprechend der geltenden Verhältnisse festlegte. Nicht aufgrund der Struktur ihres Über-Ichs, wie Freud nahe legt, sind Frauen somit auf verschiedenste Formen der "Weiblichkeit" zurechtgetrimmt, vielmehr ist dieser Zustand eine Folge der Internalisierung eines bestimmten Inhalts, eben eines mit Gewalt hergestellten Geschlechterverhältnisses. Die weibliche Spielart des Konformismus, der im klassischen Fall bei Frauen eben auf Mutterdasein und weitgehende Beschränkung auf Nicht-Lohnarbeit hinausläuft, sind keiner speziellen charakterlichen Konstitution geschuldet, sondern vielmehr der jeweiligen historischen Situation und ihren Unterwerfungsansprüchen. Unterschiede im sozialen Konformismus bei Männern und Frauen gibt es somit lediglich auf der phänomenologischen Ebene. In ihrem Wesen nach sind sie ebenfalls als autoritäre Charaktere zu bestimmen. Gerade die Entwicklungen und Transformationen der postfaschistischen Epoche zeigen dies deutlich auf. Diverse formelle Formen des Ausschlusses wurden zurückgenommen. Bei gleichzeitiger Integration in die Zwangsapparate der bürgerlichen Ordnung und der Beibehaltung aller bereits durchgesetzten inhaltlichen Ungleichheiten; die eben nur formelle Gleichheit als de iure freie und gleiche Staatsbürgerinnen gilt heute genauso, wie die Vertragsfreiheit der Warenbesitzerinnen. Diese Entwicklung ist ein eindeutiger Hinweis, dass gewisse Modifikationen in der Anordnung der Gesellschaft und damit der Triebstruktur der Individuen für das Weiterbestehen der kapitalistischen Reproduktion unumgänglich waren.

 

 

 

 

 

Die schlechte Aufhebung des autoritären Charakters

Die Weiterentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft in den letzten 50 Jahren ist ohne die faschistische Ära nicht zu begreifen. Das Verhältnis der postfaschistischen Gesellschaft zu ihrem Ursprung lässt sich wohl am besten mit dem Schlagwort "Transformation durch Integration" beschreiben. Wichtige Elemente und Ergebnisse des faschistischen Krisenlösungsprogramms wurden in aktualisierten Varianten für die Neuordnung der Gesellschaften adaptiert. Ähnliches gilt wohl auch für den autoritären Charakter. Bei allen Veränderungen, vor allem was die Form der Triebunterdrückung betrifft, bleiben bis dato wesentliche Elemente erhalten.

Als der riesige Supermarkt, zu dem die warenproduzierende Gesellschaft sich entwickelt hat, ist sie auf die konsumtive Vereinnahmung und Vertilgung des ungeheuren Warenangebots angewiesen. Das Kapital knüpft die Ausbeutung der produktiven Arbeit zusehends direkt an die Ausbeutung der konsumtiven Bedürfnisse, wodurch die Produzenten und Produzentinnen zugleich an ihre Rolle als staatlich protegierte Konsumenten und Konsumentinnen gekoppelt werden. Insofern ist es kein Wunder, dass mit dem Aufkommen des Massenkonsums im postfaschistischen, sogenannten "fordistischen Zeitalter" die bis dahin geforderte puritanische Libidokontrolle zum Hemmschuh der umfassenden Wertrealisierung wurde. Unmittelbaren Genuss freizugeben wurde in zunehmender Weise notwendig um die bestehende Vergesellschaftung zu garantieren. Es wurde zur Notwendigkeit, neue Bedürfnisse zu wecken, bis dahin unterdrückte freizugeben und die unmittelbare Wunschbefriedigung als Selbstzweck zu propagieren, also der Kunden- und Kundinnennation via Kulturindustrie die Lebensanschauung eines konformistischen Hedonismus einzupauken. Diese Transformation, die sich durch sämtliche Lebensbereiche zog, konnte vor den sexuellen Tabus selbstverständlich nicht halt machen und musste diese nachhaltig verändern. Insofern muss man die 68er und ihre sogenannte sexuelle Revolution als subjektive Verdoppelung der objektiven Entwicklung sehen.

Weitere Änderungen der "klassischen Formation" für die Konstitution von Subjektivität führt Herbert Marcuse in seinem Aufsatz "Das Veralten der Psychoanalyse" an: "1. Das klassische psychoanalytische Modell, nach dem der Vater und die vom Vater beherrschte Familie die Agentur psychischer Vergesellschaftung war, wird dadurch entwertet, daß die Gesellschaft das entstandene Ich unmittelbar durch Massenmedien, Schul- und Sportgruppen, Banden von Jugendlichen usw. dirigiert. 2. Diesem Verfall der Rolle des Vaters folgt dem Rückgang des privaten und Familienunternehmens: der Sohn wird immer unabhängiger vom Vater und der Familientradition(...) Die gesellschaftlich notwendigen Zwänge (...) werden nicht mehr erlernt – und verinnerlicht – in dem langen Kampf mit dem Vater – das Ichideal wird vielmehr dazu gebracht, auf das Ich direkt und ‚von außen’ einzuwirken, ehe noch das Ich tatsächlich sich als das persönliche und (relativ) autonome Subjekt der Vermittlung zwischen eigenem Selbst und den anderen herausgebildet hat." Das Neue an dieser Entwicklung ist dabei nicht geminderte Bedeutung der Familie, sondern die gesteigerte Einwirkung der Agenturen der Gesellschaft durch direkten Zugriff und Beeinflussung. Die Familie ist also keineswegs mehr der Schutzraum gegen die Außenwelt, in dem das Kind noch relativ sicher eine "klassische Entwicklung" zur integrierten Persönlichkeit durchmachen kann. Auch das emotionale Verhalten wird kaum mehr über die Eltern vermittelt. Vielmehr hat die sekundäre Sozialisation in peer groups, Cliquen und die Kulturindustrie diese Funktion übernommen. Die Möglichkeiten der Erfahrung und der Selbstreflexion sind durch diese Form der Außenleitung massiv in Frage gestellt, da tiefgehende und ernstzunehmende Konflikte und Auseinandersetzungen mit konkreten, für ihr Handeln verantwortlichen Autoritäten, durch die sich ein Ich erst konstituieren kann, praktisch ausgeschlossen sind. Unter diesen Bedingungen noch ein starkes Ich auszubilden, ist äußerst schwierig. "Auf Kosten der Identität, (also des Ichs, T.O.), auf Kosten einer bewussten, kritischen und aktiven Haltung gegenüber der Realität (...) werden (...) die lähmenden Kontrollen des Gewissens und der Gesellschaft entfernt. Dies meint die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit."

Paradoxerweise steht der moralische Wert "Individualität" im gesellschaftlichen Mainstream jedoch so hoch im Kurs wie selten zuvor. Obwohl es im Gegensatz dazu um die materiellen Bedingungen für eine gelungene Entwicklung von Individualität so schlecht steht wie selten zuvor. Adorno und Horkheimer bemerkten schon in den sechziger Jahren lakonisch: "Je weniger Individuen, desto mehr Individualismus."

Aktuell lässt sich in etwa folgendes konstatieren: Es verschwinden zwar bestimmte Ausprägungen des autoritären Charakters, wie rigide Sexualmoral, Lust- und Konsumfeindlichkeit, die dauernde Mobilisierung in paramilitärischen Organisationen. Gelieben sind allerdings die Grundstruktur einer prekären Sozialisation in der bürgerlichen Kleinfamilie, sowie das Bedürfnis nach kollektiver Selbstbespiegelung und nach irrationaler Propaganda. Gerade die aktuelle Formation der Kampagnendemokratie – samt neuem Führertypus á la Haider – kann ohne eine psychoanalytische Theorie des Erfolgsmodells "autoritär-konformistischer Charakter" kaum mehr adäquat begriffen und kritisiert werden. Gerade im "schlanken Staat", also der demokratisch dauermobilisierten Volksgemeinschaft, in der der gewaltvolle Eingriff des Interventionsstaates zur Bewältigung der aktuellen Krisenerscheinungen auf die Individuen abgewälzt wird, feiert das Erfolgsmodell "konformistische Revolte" widerlichste Urstände.