Dritte Walpurgisnacht

Karl Kraus und der Nationalsozialismus

Vortrag von Irina Djassemy

24. November 2005, 20 Uhr
Neues Institutsgebäude, Hörsaal 2
Universitätsstraße 7, 1010 Wien

Karl Kraus' Abrechnung mit dem Nationalsozialismus gehört bis heute zu den am wenigsten beachteten Gegenständen seines Gesamtwerks. Von Germanistik wie Politikwissenschaft gleichermaßen ignoriert, erfährt die 1933 verfasste "Dritte Walpurgisnacht" in der Presse vor allem die Zitation ihres Anfangssatzes: "Mir fällt zu Hitler nichts ein." Dass mit diesem Satz der längste Essay beginnt, den Kraus je geschrieben hat, wird wohlweislich verschwiegen. Solche Ignoranz dient einerseits der Abwehr der bis heute instruktiven Erkenntnisse, welche die "Dritte Walpurgisnacht" über den NS und auch über seine intellektuellen Mitläufer bietet, andererseits beruht sie auf dem Missverständnis, Kraus habe sich durch seine Fixierung auf Kulturkritik und durch seine Unterstützung des Dollfuß-Regimes als Faschismuskritiker disqualifiziert. Doch gerade das in jenem Anfangssatz artikulierte Bewusstsein des Inkommensurablen wird in der Dritten Walpurgisnacht zum Ausgangspunkt zentraler Einsichten in die historische Bedeutung des Nazismus als Zivilisationsbruch, in seine politisch-propagandistische Funktionsweise und nicht zuletzt in die psychologischen Voraussetzungen des Antisemitismus. Kraus' hellsichtige Diagnose, die sich auf Überlegungen aus über drei Jahrzehnten seiner Zeitschrift "Die Fackel" stützen konnte, weist - wie in diesem Vortrag gezeigt wird - weitreichende Übereinstimmungen mit der Antisemitismusanalyse der Kritischen Theorie auf, insbesondere in der Darstellung der antisemitischen Projektion, der Verschränkung von Rationalität und Irrationalität und der Dialektik von Kontinuität und Bruch im Verhältnis des NS zur formalen Demokratie. Indessen entfalten die Krausschen Darstellungsformen als künstlerische eine spezifische Wirkung, die in kognitiver Erkenntnis allein nicht aufgeht. Der Vortrag versteht sich deshalb auch als Plädoyer für eine Kraus-Rezeption, die trotz der bedenklichen Aspekte des Krausschen Verhältnisses zum Judentum seine Antisemitismuskritik zur Kenntnis nimmt, um aus ihr relevante Impulse für aktuelle Debatten zu beziehen.

Irina Djassemy (bisher an den Universitäten Frankfurt und Freiburg beschäftigt) lebt als freie Literaturwissenschaftlerin in Wien und ist Verfasserin der Studie "Der 'Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit'. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno" (2002).

Eine Veranstaltung von Café Critique und Studienvertretung Politikwissenschaft