Zur Kritik des Staats
Einige Thesen über Recht und Ausnahmezustand - und zwei Arten, im Politischen zu verdrängen.
Von Gerhard Scheit

Recht
Das Recht schützt das Individuum, weil dieses der Ware, die bekanntlich nicht von allein zum Markt gehen kann, Beine macht. Die Würde des Warenhüters ist unantastbar. In der Gesellschaft von Staat und Kapital ist es der einzige Schutz, mit dem das Individuum rechnen darf.

1. Verdrängung: Das Recht hat nichts mit der Ware zu tun
Vollendeter Ausdruck dieser "Verdrängung" ist die "reine Rechtslehre" von Hans Kelsen - der eben nicht nur Schöpfer der österreichischen Verfassung war, sondern auch Ideologe der allgemeinen Verfassung des bürgerlichen Subjekts und darin wichtigster Kontrahent von Carl Schmitt. In seiner Rechtslehre werden die Rechtsverhältnisse im Sinne des Kantschen a priori verstanden: als eine abstrakte Rationalität, die allem Konkreten vorausgesetzt sei - was sie in gewisser Weise ja wirklich sind. Nur existiert diese normative Ordnung damit für Kelsen zugleich jenseits des Widerspruchs. Die im a priori verborgene Perspektive Kelsens ist die einer Sozialdemokratie, welche ab und zu inhaltlich gegen Kapital und Staatsgewalt polemisiert, deren gesellschaftliche Form aber vollständig übernimmt. (Das Ideal eines 'gezähmten Kapitalismus', wie es der Sozialdemokratie eignet, tritt unwillkürlich in einigen anthropologisierenden Wendungen hervor: eine unbefangene Betrachtung müsse, so Kelsen, ein "primäres Macht- und Geltungsstreben des Menschen" konstatieren, dem das Recht gewissermaßen Grenzen setze.)
Eugen Paschukanis, der bedeutendste Rechtstheoretiker, den Marxismus und Sowjetunion hervorgebracht haben, schätzt an Kelsen dennoch die "unerschrockene Folgerichtigkeit", mit der das neukantianische Denken ad absurdum geführt wird: "Denn es stellt sich heraus, daß die 'reine', von allen Beimengungen des Seienden, des Faktischen, von allen psy­chologischen und soziologischen 'Schlacken' gesäuberte Gesetzmä­ßigkeit des Sollens überhaupt keine vernunftgemäße Bestimmungen hat oder haben kann. Für das rein juristische, das heißt unbedingt heteronome Sollen ist sogar der Zweck etwas Nebensächliches und Gleichgültiges. (...) Eine solche allgemeine Rechtstheorie, die nichts erläutert, die von vornherein den Tatsachen der Wirklichkeit, das heißt des gesellschaft­lichen Lebens den Rücken kehrt und mit Normen hantiert, ohne sich für deren Ursprung (eine metajuristische Frage!) noch für deren Zusammenhang mit irgendwelchen materiellen Belangen zu interessie­ren, kann freilich nur höchstens in dem Sinne auf den Namen Theorie Anspruch erheben, in dem man zum Beispiel von einer Theorie des Schachspiels zu sprechen pflegt. Mit Wissenschaft hat eine solche Theorie nichts zu tun."
Die marxistische Theorie des Rechts, die Paschukanis dagegen unter der offiziellen sowjetischen Perspektive des Absterbens von Staat und Recht geschrieben hat, möchte jenes a priori materialistisch aufheben und die Rechtsform als historische Form untersuchen. Paschukanis fragt sich: "Kann das Recht als gesellschaftliches Verhältnis aufgefaßt werden, in demselben Sinne, in dem Marx das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis genannt hat?" Die Frage - für Kelsen schon eine sozialwissenschaftliche Verunreinigung der Rechtstheorie - wird mit einem einfachen Ja beantwortet: "Der Mensch wird zum Rechtssubjekt kraft derselben Notwendigkeit, die das Naturprodukt in die mit der rätselhaften Eigenschaft des Wertes ausgestattete Ware verwandelt." Immer wieder kommt die marxistische Rechtstheorie zu diesem Ergebnis: daß Recht und Warenform in eben demselben Sinn sich verstehen lassen, eben derselben Notwendigkeit entspringen. So werden die Formulierungen fast tautologisch: Die Rechtsform ist der "unausbleibliche Reflex" des Verhältnisses "der Warenbesitzer zueinander"; die Kategorie des Rechtssubjekts werde "selbstverständlich aus dem auf dem Markte vor sich gehenden Tauschakt abstrahiert"; der Zusammenhang stelle sich "gleichzeitig in zwei absurden Formen" dar: "als Warenwert und als die Fähigkeit des Menschen, Subjekt des Rechts zu sein".
Karl Korsch kritisiert (in seiner Besprechung von 1930) diese Tendenz zur Tautologie, löst sie allerdings ganz im Sinne des überkommenen Basis-Überbau-Schemas auf - und das erstaunt, da Korsch doch zu den ganz wenigen gehört, die der Marxschen Wertformanalyse etwas abgewinnen konnten: "Wenn Paschukanis (...) ausdrücklich von zwei 'gleichbedeutenden' Aspekten für das einheitlich-ganzheitliche Verhältnis der in der warenproduzierenden Gesellschaft lebenden Menschen, einem ökonomischen und einem juristischen spricht, wenn er ausdrücklich den 'Rechtsfetischismus' und den 'Warenfetischismus' als zwei 'auf derselben Grundlage' ruhende und in gleichem Maße 'rätselhafte' Phänomene bezeichne, wenn er sagt, daß diese 'beiden Grundformen' sich 'gegenseitig' bedingen und daß sich der gesellschaftliche, in der Produktion wurzelnde Zusammenhang gleichzeitig in diesen 'zwei absurden Formen' darstellt, so verläßt er (...) entschieden den Marxschen Gedanken, der das ökonomische Verhältnis als das grundlegende, dagegen das juristische ebenso wie das politische Verhältnis als daraus abgeleitete Verhältnisse betrachtet."
Damit erhebt Korsch auch Einspruch gegen die "für einen 'Marxisten' äußerst merkwürdige Überschätzung der 'Zirkulation'", die ja die eigentliche Sphäre des Rechts ist. Er sieht sie in Zusammenhang mit der aktuellen Politik der Sowjetunion: Paschukanis gelange "zu einer zunächst theoretischen Wiederanerkennung und Wiederherstellung der Rechtsideologie und der darin verkleideten Wirklichkeit. Den gleichen Weg ging und geht in der gleichen Periode auch die wirkliche geschichtliche Bewegung (...) die gesamte ökonomisch gesellschaftliche, und als ein Bestandteil von ihr auch die auf dem besonderen Gebiet des Rechts sich vollziehende geschichtliche Entwicklung in der russischen Sowjetunion."
Aber Paschukanis nimmt an einigen Stellen sehr deutlich die Grenzen seiner eigenen "Zirkulations"-Theorie wahr - angesichts bestimmter Seiten staatlicher Machtausübung, die im Recht nicht aufgehen können: "Der Staat als Organisation der Klassenherrschaft und als Organi­sation für die Führung von äußeren Kriegen erheischt keine rechtli­che Deutung, er läßt sie sogar gar nicht zu. Es ist dies ein Gebiet, in dem die sogenannte Staatsraison regiert, die nichts anderes ist als das Prinzip der nackten Zweckmäßigkeit. Die Macht als Garant des Marktaustausches kann dagegen nicht nur in der Sprache des Rechts ausge­drückt werden, sondern stellt sich selbst als Recht und nur als Recht dar, das heißt verschmilzt ganz mit der abstrakten objektiven Norm. Darum ist jetzt jede juristische Staatstheorie, die alle Funktionen des Staates erfassen will notwendigerweise inadäquat. Sie kann keine treue Spiegelung aller Tatsachen des staatlichen Lebens sein, sie gibt nur einen ideologischen, das heißt verzerrten Widerschein der Wirklichkeit." Doch führt diese Kritik der reinen Zirkulation in letzter Konsequenz wiederum dazu, daß Paschukanis - den Einsichten über Ware und Subjekt zum Trotz - das Recht gegenüber dem Staat so sehr entwertet, daß es nun seinerseits in der Souveränität des Klassenstaats aufgeht: "Der Rechtsstaat ist eine fata morgana, aber eine der Bourgeoisie sehr bequeme, denn sie ersetzt die verwitterte religiöse Ideologie und verbirgt die Tatsache der Herrschaft der Bourgeoisie vor den Augen der Massen. Die Ideologie des Rechtsstaats ist noch bequemer als die religiöse, weil sie die objektive Wirklichkeit nicht vollständig widerspiegelt, sich aber doch auf diese stützt."
Dabei hat gerade die Theorie von Paschukanis in erstaunlicher Klarheit offengelegt, daß der Rechtsstaat mehr als nur eine fata morgana ist; daß dessen Sinnestäuschung auf wirklicher Abstraktion von unmittelbarer Gewalt beruht. "Überall, wo die Kategorien des Werts und Tauschwerts in Szene treten, ist der autonome Wille der Tauschenden unerläßliche Voraussetzung." Der Zwang "als der auf Gewalt gestützte Befehl eines Menschen an einen anderen" widerspreche also "der Grundvoraussetzung des Verkehrs zwischen Warenbesitzern". Er muß vielmehr "auftreten als ein von einer abstrakten Kollektivperson ausgehender Zwang, der nicht im Interesse des Individuums, von dem er ausgeht, ausgeübt wird (...) sondern im Interesse aller am Rechtsverkehr Beteiligten." Es verhält sich keineswegs so, als würde der Zwang nur zum Schein im Interesse aller am Rechtsverkehr Beteiligten auftreten, sondern er repräsentiert es wirklich: er wird also auch im Interesse der Arbeiter und anderer nicht herrschender Schichten ausgeübt, soweit sie als Warenhüter bestimmt werden, soweit sie Klassen sind.
Zur fata morgana wird der Rechtsstaat nur dort, wo, wie bei Kelsen, verdrängt wird, was mit dem Recht nicht identisch ist. Paschukanis aber erkennt nicht nur die Form, die den Zwang bestimmt, sondern auch, daß diese Form nicht alles sein kann, was den Staat ausmacht. Er reduziert dieses Nichtidentische allerdings aufs Klasseninteresse, das damit hypostasiert wird als die wahre Identität. Das heißt: er sieht es nicht im Zusammenhang des einzelnen Individuums - würde er es in diesem Zusammenhang sehen, dann könnte er die emanzipativen Möglichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft, die durch die Autonomie des Warensubjekts gegeben sind, besser schätzen; dann würde er in der Gestalt der Klasse, einerlei ob Bourgeoisie oder Proletariat, selbst noch die repressive Kollektivperson wahrnehmen. Das Klasseninteresse wird also ganz im Geist des Leninismus beschworen - als der Legitimationsideologie des neuen autoritären Staats, der sich als "Sozialismus in einem Lande" begreift. Und die Form erscheint nur noch als Maske, hinter der sich letztlich das Interesse an der Ausbeutung der Arbeiterklasse verbirgt. Das Proletariat reißt der Bourgeoisie die Maske herunter und setzt nun sein eigenes Interesse unverhüllt und unvermittelt durch. Das ist die Barbarei des Staatskommunismus.
So schwankt die marxistische Rechtslehre zwischen der inhaltlichen Reduktion aufs Klasseninteresse und der wirklichen Erkenntnis der Form, die alle Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft annehmen. Das Schwanken wäre aber als falsch gestellte Frage aufzufassen, die richtig formuliert lauten müßte: Kann die "Kollektivperson", die als "das Interesse aller am Rechtsverkehr Beteiligten" auftritt, der Grundvoraussetzung des Verkehrs zwischen Warenbesitzern wirklich widersprechen und das Recht abschaffen, von dem sie sich selbst ableitet? Diese Frage, die der Verselbständigung des Staats gilt, verweist auf die Nichtidentität von Souverän und Gesetz. Paschukanis hingegen löst, was nicht identisch ist, schließlich doch in die Identität des Klasseninteresses auf - und bestätigt damit indirekt die Antwort, die der sowjetische Staat zur selben Zeit bereits gegeben hatte: "Der Tauschwert hört auf, Tauschwert zu sein, die Ware hört auf, Ware zu sein, wenn die Tauschproportionen von einer außerhalb der immanenten Gesetze des Marktes stehenden Autorität bestimmt werden."
Franz Neumann hat eine solche Lösung zurückgewiesen, als er - aus Deutschland vertrieben - über den Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, nachdachte. Mit Paschukanis erkennt er die Form, in welcher der Zwang in der bürgerlichen Gesellschaft auftritt: "die Rechtsperson ist die ökonomische Charaktermaske des Eigentumsverhältnisses"; und wie Paschukanis reduziert er, was er darin als Nichtidentisches wahrnimmt, zunächst aufs Klasseninteresse: auch bei ihm scheint die Form nur die Maske, hinter der sich letztlich das Interesse an der Ausbeutung der Arbeiterklasse verbirgt: sie lasse "nichts davon ahnen, daß der Unternehmer über den Arbeiter verfügt". Aber anders als der sowjetische Theoretiker des Rechts, auf den er sich bezieht, hält Neumann den inneren Widerspruch, der durch die Form selbst gegeben ist, entschieden fest: "Dieser Staat, in dem Gesetze, aber nicht Menschen herrschen sollen (die anglo-amerikanische Formel), dieser Rechtsstaat (die deutsche Formulierung) beruht auf zwei Elementen: auf Gewalt und Gesetz, auf Souveränität und Freiheit. Der Souveränität bedarf das Bür­gertum, um lokale und partikulare Gewalten zu vernichten, die Kirche aus den weltlichen Angelegenheiten zurückzudrängen, eine einheitliche Verwaltung und Rechtsprechung herzustellen, die Grenzen zu sichern und Kriege zu führen, und um alle diese Auf­gaben zu finanzieren. Politische Freiheit braucht das Bürgertum, um seine ökonomische Freiheit zu sichern. Beide Elemente sind konstitutiv. Es gibt keine bürgerliche Rechts- und Staatstheorie, in der nicht Gewalt und Gesetz bejaht sind, wenn auch der Akzent, der auf beide Elemente gelegt wird, je nach der historischen Situa­tion verschieden ist. Selbst da, wo behauptet wird, daß sich Souveränität ausschließlich aus der Konkurrenz entwickeln müsse, selbst da ist in Wahrheit die gesetzlose Gewalt unabhängig von der Konkurrenz gefordert. In der juristischen Terminologie drückt sich dieser echte Wider­spruch bereits in der Doppelbedeutung des Wortes 'Recht' aus. Denn Recht meint einmal das objektive Recht, d. h. das vom Souverän gesetzte oder jedenfalls der souveränen Gewalt zurechenbare Recht, zum anderen den Anspruch des Rechtssubjektes. Also einmal die Verneinung der Autonomie des Individuums und zugleich seine Bejahung."
Den Staat des Liberalismus in diesem Widerspruch zu begreifen, heißt nicht nur die emanzipativen Möglichkeiten, die das Recht geschaffen hat, anzuerkennen (was Paschukanis kaum vermag), sondern auch zu ermessen, was im autoritären Staat droht. "In einer Gesellschaft, die der Gewalt ihrem Prinzip nach nicht entraten kann, ist wahre Allgemeinheit nicht möglich. Aber die beschränkte, formale und negative Allgemeinheit des Gesetzes im Liberalismus ermöglicht nicht nur kapitalistische Berechenbarkeit, sondern garantiert ein Minimum an Freiheit, da die formale Freiheit zweiseitig ist und so auch den Schwachen wenigstens rechtliche Chancen einräumt."

Ausnahmezustand
Ist das Recht in der Gesellschaft von Staat und Kapital auch der einzige Schutz, mit dem das Individuum rechnen darf, so kann es eben doch sein, daß es diese Rechnung ohne den Wirt macht. Das ist politisch gesprochen: der Ausnahmezustand. Er verhält sich zum Recht wie die Krise zur politischen Ökonomie: es geht um die Schranken abstrakter Rationalität - der Rationalität juristischer Sätze wie ökonomischer Begriffe: "gerade das Gelingen der restlosen Durchrationalisierung der Ökonomie, ihr Verwandeltsein in ein abstraktes, möglichst mathematisiertes Formsystem von 'Gesetzen'" bilde, so Georg Lukács, die methodische Schranke "für die Begreifbarkeit der Krise. Das qualitative Sein der 'Dinge', das als unbegriffenes und ausgeschaltetes Ding an sich, als Gebrauchswert sein außerökonomisches Leben führt, das man während des normalen Funktionierens der ökonomischen Gesetze ruhig vernachlässigen zu können meint, wird in den Krisen plötzlich (...) zum ausschlaggebenden Faktor." Die Souveränität ist dieses Nichtidentische in den Rechtsverhältnissen, das in einer bestimmten Situation den Ausschlag gibt. Sie ist "nicht abgeleitete" Macht (Carl Schmitt), die auch ein 'außerrechtliches' Leben führt, das man während des normalen Funktionierens des Rechtsstaats naturgemäß vernachlässigt.
Diese bestimmte Situation ist eben die Krise, die - wie Marx schon am Beginn des Kapital schreibt - in dem der Ware immanenten Gegensatz von Gebrauchswert und Wert ("von Privatarbeit, die sich zugleich als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit darstellen muß, von besondrer konkreter Arbeit, die zugleich nur als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, von Personifizierung der Sache und Versachlichung der Personen") gesetzt ist, wenn auch nur als Möglichkeit. Wird die Möglichkeit realisiert, so macht sich darin "die Einheit gewaltsam geltend". Indirekt spricht Marx damit bereits vom Souverän. Denn der Staat ist es, der nicht nur als Recht den normalen Gang der Geschäfte garantiert, sondern ebenso als Souverän die Einheit gewaltsam geltend macht, darauf sozusagen das Monopol hat, sollten die zu jenem Gang vereinten Kräfte wirklich auseinanderstreben und sich verselbständigen.
Von solcher Kritik der politischen Ökonomie ganz abgewendet, nur geleitet von seiner Verachtung für die Autonomie des Rechts und seiner Zuneigung zum Notstand, hat Carl Schmitt - in einer bemerkenswerten Annäherung an dialektisches Denken - zum ersten Mal in aller Deutlichkeit ausgesprochen, daß der Staat nicht anders als in seinem inneren Gegensatz zu begreifen wäre: der Souverän stehe außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehöre doch zu ihr. Er sei zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann, und diese Entscheidung werde durch den Ausnahmezustand erfordert - einen Zustand, der nicht mehr nach den geltenden Rechtsätzen synthetisiert werden könne. Die Totalität, die sich darin gewaltsam zur Geltung bringt, geht sowenig in den juristischen wie in den ökonomischen Begriffen auf: "Der Ausnahmefall, der in der geltenden Rechtsordnung nicht umschriebene Fall, kann höchstens als Fall äußerster Not, Gefährdung des Staates oder dergleichen bezeichnet werden, nicht aber tatbestandsmäßig umschrieben werden. Erst dieser Fall macht die Frage nach dem Subjekt der Souveränität, das heißt die Frage der Souveränität überhaupt, aktuell. Es kann weder mit subsumierbarer Klarheit angegeben werden, wann ein Notfall vorliegt, noch kann inhaltlich aufgezählt werden, was in einem solchen Fall geschehen darf, wenn es sich wirklich um den extremen Notfall und um seine Beseitigung handelt."

2. Verdrängung: Das Recht existiert ohne den Souverän
Bürgerliche Theorie hingegen hat meist versucht, die Krise und den Ausnahmezustand zu rationalisieren - von Locke bis Kelsen, von Smith bis Keynes. (Wenn Neumann hingegen sagt, daß es keine gäbe, in der nicht Gewalt und Gesetz zugleich bejaht seien, so wird diese Tendenz zur Rationalisierung, damit etwa auch der Unterschied zwischen Locke und Kelsen, zu wenig deutlich.) Während es der ökonomischen Lehre offenbar darauf ankam, den Gegensatz von Tauschwert und Gebrauchswert, Geld und Ware schon im Keim der Ware zu verwischen, bemühte sich die Staatsrechtslehre, eine widerspruchslose Identität von Souveränität und Recht plausibel zu machen. Die "reine Rechtslehre" Kelsens bekennt sich offen dazu, das mit dem Recht nicht Identische eben auch nicht zu Bewußtsein zu bringen: Der Souveränitätsbegriff muß "radikal verdrängt werden" (Kelsen). Der Staat - so geht aus der erfolgreichen Verdrängungsleistung hervor - sei keine Realität neben und außer der Rechtsordnung, er könne nichts anderes sein als gerade diese Rechtsordnung selbst. Was er darüber hinaus zu sein scheint, ist als mitnichten notwendiges, aber durchaus verfälschendes Bewußtsein allein der psychologischen oder religionswissenschaftlichen Forschung zu überlassen - staatsrechtlich sinnlose Verdoppelung der einheitlichen und identischen Rechtsordnung in Gestalt vergöttlichter Subjekte, wie sie in den Köpfen meist rückwärtsgewandter Ideologen und wild gewordener Kleinbürger herumspuken und durch Aufklärung und Therapie zu beseitigen sind. Die heutige vulgarisierte und ideologisch zurechtgemachte Auffassung dieser reinen Rechtslehre lautet dann: der Souverän ist, soweit er real noch (!) existiert, gleichsam eine überflüssige Zutat zum Rechtsstaat, die jederzeit beseitigt werden könne und durch aufgeklärte vernünftige Politik auch beseitigt werden soll. (Welche Konsequenzen das für die Frage des "internationalen Rechts", des sogenannten Völkerrechts, hat, wäre an der antiamerikanischen Argumentation von Habermas & Co. zu erläutern.)
Die reine Rechtslehre der Demokratie möchte Souveränität in Recht, alle Substanz in Funktionen auflösen - Kelsen ist darin Vorläufer heutiger Menschenrechts-Ideologie. Die faschistische Lehre von der Souveränität hingegen bereitet darauf vor, das Recht der Souveränität, die Funktion der Substanz zu opfern - und so endet auch Schmitts Annäherung an dialektisches Denken in der Einstimmung auf den Führerstaat.
Die Würde des Warenhüters ist antastbar. Die deutsche Rechtslehre ist in der Theorie, die deutsche Volksgemeinschaft in der Praxis die offene und rückhaltlose Bejahung, daß es so sein soll: sie beinhalten den Verlust jedes Rechtsbewußtseins. Die innere Distanz zu sich selber - Voraussetzung, die Projektionen zu reflektieren -, die durch das rechtliche Verhältnis von Warenbesitzer und Ware möglich ist, wird abgeschafft.
Das Recht wird also zurückgenommen oder nur zum Schein beibehalten; es wird, wie Franz Neumann sagt, "in ein technisches Mittel zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele" verwandelt. Das "konkrete wahre Recht des deutschen Volks" beseitigt das "falsche abstrakte Gesetz der Juden", das heißt: ein Recht, das nur als Instrument des politischen Zwangs dient, beseitigt die Rechte, die den einzelnen Warenhüter schützen. Es beginnt mit dem unmittelbaren Eingriff in die Zirkulation - Installierung von "Treuhändern der Arbeit", Durchsetzung von Lohn- und Preisstops - und setzt sich in den außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Beziehungen fort: "Innerhalb der Großräume war zwar Arbeitsteilung vorgesehen, aber keine Konkurrenz, weshalb der substitutive Warentausch behindert und der komplementäre gefördert werden sollte. Komplementärer Warentausch auf Clearing-Basis bedeutet, daß jedes Land nur Produkte importiert, die es selber nicht herstellen kann. Mit der Konkurrenz freilich entfällt auch der Markt, d. h. der unparteiische Schiedsrichter oder die nach rein objektiven Kriterien urteilende Instanz, welche die Produktion - Volumen, Standorte, Verfahren, etc. - reguliert, und eben diese vakant gewordene Position wird von der Hegemonialmacht selber besetzt, die den anderen Nationen, die als Hilfsvölker, und den anderen Ländern, die als wirtschaftliche Ergänzungsräume gelten, Vorgaben macht hinsichtlich Art und Umfang dessen, was sie liefern müssen und dafür bekommen." (Wolfgang Pohrt) Hier endet aber auch die Fähigkeit der ökonomischen Theorie, das Ganze rational begreiflich zu machen: Ohne Markt, auf dem sich freie und voneinander unabhängige Subjekte, eben Warenhüter, begegnen, ohne den "autonomen Willen der Tauschenden" (Paschukanis) kann der Wert der Waren nicht bestimmend werden. Die Festsetzung des Preises oder der Austauschrelation wird zu einem Willkürakt. Tausch aber, der nicht auf freier Entscheidung unabhängiger Subjekte beruht, sondern willkürlich oktroyiert wird, ist die "legalisierte Form des Raubes".
Diese Legalisierung hat mit Recht sowenig zu tun wie der bloße Raubzug mit kapitalistischer Produktion. Dennoch handelt es sich nicht um Raub. Denn von Reproduktion der Gesellschaft, auf die doch Raub immer noch zielen kann, überhaupt zu reden, wird im Zusammenhang eines permanenten Ausnahmezustands, wie ihn das Dritte Reich (im Gegensatz zum New Deal der USA, siehe Exkurs I) hervorbringt, absurd. Je mehr sich der Großraum entwickelt, desto unklarer wird auch den Großraumplanern, auf welche Weise in dem immer weiter ausufernden Riesenreich gelebt und produziert werden sollte, wie die Deutschen es verwalten und kontrollieren wollen - von der territorialen Abgrenzung der Einflußsphären bis zu Grundsatzentscheidungen über entwicklungs- und regionalpolitische Fragen. "In der Propaganda der Nazis gegen das raffende (jüdische) und für das schaffende (deutsche) Kapital drückt sich die projektiv gewendete Ahnung aus, daß sie selber ordinäre Banditen waren, die morden, brandschatzen und plündern können, aber unfähig sind, die Produktion und überhaupt ein geregeltes Leben zu organisieren." (Pohrt) Aber anständige Volksgenossen sind keine ordinären Banditen, die nur für einen bestimmten, faßbaren Zweck morden, brandschatzen und plündern - vergleichbar dem Profit, den der Unternehmer macht. Die Abschaffung von Vermittlung, die der Nationalsozialismus betreibt (und worin er sich vom Staatskommunismus unterscheidet, siehe Exkurs II), gibt es in letzter Konsequenz nur als Selbstzweck: Vorbereitung und Durchführung von Massenmord um seiner selbst willen.

Racket und Sharia
Racket ist der Begriff der Kritischen Theorie für jene "nicht abgeleitete" Macht, die - auch inmitten des Rechtsstaats - ein 'außerrechtliches' Leben führt, das man allerdings während des normalen Funktionierens des Rechtsstaats vernachlässigen zu können glaubt.
Racket heißt zunächst einmal: Bande, vor allem "Erpresserbande" - nimmt aber auch die Bedeutung von "Selbsthilfegruppe" und "Wohltätigkeitsverein" an. Die Problematik des Begriffs liegt darin, daß mit ihm auf den ersten Blick alle Formen von Herrschaft gleichermaßen als eine solche Kombination von Erpresserbande und Wohltätigkeitsverein erscheinen - sei's steinzeitliche Stammesgesellschaft oder feudaler Adelsclan, bürgerliche Klasse oder faschistische Partei; sei's die einzelne Familie oder das kapitalistische Monopol. Aber im Kern zielt er doch immer auf ein Problem: die Fortexistenz oder Rekonstruktion persönlicher Abhängigkeit unter den Bedingungen von Recht und Kapitalverhältnis, also unter Bedingungen, die doch, sollte man mit Marx meinen, von solcher Abhängigkeit prinzipiell befreien.
Max Horkheimer versucht die konkrete Herrschaftsform des Rackets mit der abstrakten des Rechts in Zusammenhang zu bringen: Warenform und Kapitalverhältnis überspringend (darin liegt die Problematik dieser Aufzeichnungen), begreift er das Recht als eine Art Relativierung der Machtverhältnisse zwischen Rackets: "Wenn eine Organisation so mächtig ist, daß sie ihren Willen auf einem geographischen Gebiet als dauernde Regel des Verhaltens für alle Bewohner aufrechterhalten kann, so nimmt die Herrschaft der Personen die Form des Gesetzes an. Dieses fixiert die relativen Machtverhältnisse." Als fixiertes Medium gewinnt jedoch "das Recht, wie andere Vermittlungen, eigene Natur und Resistenzkraft. (...) Der Sinn und Zweck des Rechts, im gesellschaftlichen Leben zur Richtlinie zu dienen, bedingt sein Absehen von der bestimmten Person und von der Vergangenheit, seine Gültigkeit für und gegen jeden vom festgesetzten Tage an bis zur öffentlichen Widerrufung. Das Mittel der Herrschaft setzt sich ihr entgegen als die Reflexion, an der sie sich entlarvt." (Hervorheb. v. mir, G.S.) An dieser Stelle nun tritt der Zeitkern von Horkheimers Aufzeichnungen unmittelbar hervor. Es ist die gewaltsame Durchsetzung der Einheit gegenüber dem Recht, die mit dem Racketbegriff kritisiert werden soll: die sich "totalitär gestal­tende Gesellschaft" führe "den Kampf gegen das Recht, gegen alle Vermitt­lungen, die eigenes Leben gewannen (...)." Diese Vermittlungen zu verteidigen, heißt noch nicht "wahre Allgemeinheit" (Franz Neumann), Versöhnung des Allgemeinen und Besonderen, heißt zunächst nur: Verteidigung der Voraussetzungen, daß jene Versöhnung einmal wahr werde.
Gemeinsamkeit und Differenz nationalsozialistischer und islamistischer Gewalt lassen sich vielleicht mit diesem Begriff des Rackets aufschlüsseln. Der Nationalsozialismus, der auf der einen Seite als ein monolithisch strukturiertes "Staatssubjekt Kapital" (Heinz Langerhans) hervortritt, ein vollkommen integriertes und alles integrierendes Gebilde totaler Durchstaatlichung, das politischen Zwang mit dem Recht als Mittel überall durchsetzt, entpuppt sich auf der anderen Seite als in sich vollkommen Zerfallenes, als ein "Unstaat" und "Chaos" (Franz Neumann), worin die Rackets - das Recht ihrerseits als politisches Mittel benutzend - in unablässigem Konkurrenzkampf, eine Konkurrenz, die nicht mehr über den Markt vermittelt wird, die Vernichtung vorantreiben. Im Suicide bombing kulminiert hingegen eine politische Gewalt, die jenes integrierte Staatssubjekt fast völlig entbehrt. Zerfall, Unstaat und Chaos treten offen hervor, aber es erhält sich dennoch politische Identität, die eben nirgend so deutlich wird, wie am Selbstmord-Attentat, auf das keine bloß kriminelle Bande je verfällt. Sie wird allerdings in privatisierter Form zur Geltung gebracht; "totalitäre" Einheit, wie sie die Totalitarismustheorie festzuhalten sucht, eine Einheit, die in einem einzigen Führer verkörpert wäre, entsteht nur im imaginierten Geheimen, im phantasierten Reich von Al-Qaida, wie es die Medien verbreiten. Und Bin Laden erhält gerade darum die Aura des großen Führers, weil er dem Zusammenhang wirklicher Staaten so sehr entrückt ist. In Wirklichkeit betreibt diese Organisation ihre Politik zwar im Geheimen und sehr erfolgreich, aber durchaus neben und weitgehend unabhängig von zahlreichen anderen sektiererischen Gruppen, welche wiederum jeweils "ihren lokalen Führer haben, der ihnen den Weg weist. Diese semi- bis pseudocharismatischen Figuren sind ebenso zahlreich wie die fundamentalistischen Gruppen selbst." (Bassam Tibi)
Mit der 'Rechtsform' der Sharia hat der Islam bestimmte Voraussetzungen für Ideologie und Herrschaft dieser Rackets ausgebildet - ähnlich wie bestimmte christliche Traditionen (in europäisch-katholischer und deutsch-lutherischer Ausprägung) die "deutsche Rechtslehre" von Carl Schmitt, nationalsozialistische Ideologie und Herrschaft im allgemeinen vorbereiten konnten. Der "Heilige Krieg" des Islam meint keinen Krieg im gewöhnlichen okzidentalen Verständnis, obwohl er dessen Mittel keineswegs ausschließt. Da es keine Trennung zwischen Staat und Religion gibt, ist hier der Staat unmittelbar in jeder alltäglichen religiösen Handlung, in jeder scheinbar nur auf Gott bezogenen Aussage präsent, er muß nicht wie in abendländischer Tradition durch selbständige Instanzen der Gesellschaft vermittelt werden; und insofern gibt es in dieser Form auch keine Differenzierung in private und öffentliche Sphäre: Jihad findet überall statt. So kommt der vormoderne, allumfassend 'religiöse' Charakter islamischer Traditionen auf einigermaßen überraschende Weise einer Tendenz förmlich entgegen, die sich inmitten der modernen, angeblich vollständig säkularisierten Welt immer deutlicher abzeichnet: Aufhebung der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft.
Das 'Recht' der Sharia besitzt - mit Horkheimer gesprochen - keine eigene Natur und Resistenzkraft, es erscheint als Mittel und Ausdruck unmittelbarer Herrschaft und wird dem abstrakten Recht entgegengesetzt. Sein Regelwerk ist in den Bereichen des Alltagslebens ausgebildet, insbesondere Familie und Ehe betreffend, bezieht man es aber unmittelbar auf den modernen Staatsapparat und die heute möglichen Regierungsformen, dann bleibt dieses 'Recht' notwendig ganz unbestimmt - und gerade darin liegt seine moderne Bestimmung für den Ausnahmezustand, der hier zum Alltag werden soll. Von Allah allein wird abgleitet, was ohnehin nicht abzuleiten ist: Souveränität. Wenn also in Hinblick auf Regierung und Staatsapparat "ein homogener, genau definierter und abgegrenzter Bestand an Rechtsquellen, den wir als islamische Sharia bezeichnen können, nicht existiert" - kann es auch nicht verwundern, daß in jenen islamistischen Ländern, in denen die sogenannten Fundamentalisten, also islamistische Rackets an die Macht gelangt sind (Iran, Sudan, Afghanistan), die Anwendung der Sharia "aus einer reinen Willkür von Staatsgewalt" (Tibi) bestand; und wenn islamistische Staatstheoretiker verkünden, im Islam besitze die Sharia die oberste Souveränität - und zwar mit der Begründung: "Es ist das islamische System, und das ist ausreichend" (Muhammad Yusuf Musa) -, so haben sie gerade in ihren wie Gebetsmühlen gehandhabten Tautologien die politische Theologie von Carl Schmitt, die ihnen vermutlich unbekannt ist, vollauf begriffen.
Die Gesetze der Sharia bilden zwar kein festgelegtes einheitliches System, aber sie haben eine eindeutige Tendenz; das macht dieses Resultat ganz bestimmter historischer Situationen so brauchbar für ganz bestimmte moderne. Darin liegt ihre besondere Attraktivität, daß sie Unmittelbarkeit suggerieren, wo in Wahrheit alles vermittelt ist; daß sie also gerade dort zur Unmittelbarkeit zwingen, d. h. Gewalt entfesseln, wo Herrschaft durch kapitalistischen Tausch und rechtliche Vermittlung, also durch Gewaltverzicht und Monopolisierung der Gewalt hindurch, wirksam geworden ist. Bei den Strafen überwiegen die körperlichen; bei den Vorschriften für das Zusammenleben die Abwehr der Gleichheit - vor allem die zwischen den Geschlechtern. Die Zurichtung der Individuen zum Selbstopfer, der Krieg also gegen den eigenen Körper, impliziert die besondere Erniedrigung der Frau wie die absolute Ächtung der Homosexualität. "Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer." (Adorno) Die konkreten Strafen, die für Frauen und Homosexuelle vorgesehen sind und praktiziert werden, ebenso wie die Verhältnisse, für die sie einmal erfunden worden waren, sind ebenso Jihad an-Nafs (Krieg gegen sich selbst) wie Herstellung der Gemeinschaft. Ihren ursprünglich barbarischen Charakter haben sie durchaus gewandelt - sie sind in höherem Grad barbarisch geworden: Die Menschen, die der Sharia zuwiderhandeln, werden nicht mehr darum coram publico verstümmelt und mit Foltermethoden zu Tode gebracht, weil sie gegen ein "konkretes Recht" (contradictio in adjecto und Vorform des wirklichen Rechts) verstoßen hätten, das ist gewissermaßen der Anlaß. Mit ihnen wird demonstrativ verfahren, als ob es keine Ware Arbeitskraft gäbe. Das ist es, was hier zur Schau gestellt wird. Sie werden gefoltert, verstümmelt und gesteinigt, weil an ihrem Leid noch Gemeinschaft erlebt werden kann - aber eine Gemeinschaft, die selbst nicht mehr archaisch ist, sondern Reaktion auf die bürgerliche Gesellschaft, die alle ihre Elemente bereits durchdrungen hat.
Sharia heißt: Verlust jedes Rechtsbewußtseins. Die Gemeinschaft setzt an die Stelle der Vermittlung den Ausschluß, die Verfolgung und die Ermordung der Juden, heute vor allem: die Vernichtung Israels. Die Juden werden in letzter Instanz für den 'inneren Verfall', für die Verstöße gegen die Sharia verantwortlich gemacht. Wird der Vernichtungswahn auch weniger mit Rassentheorie als mit Allah und Koran zum Ausdruck gebracht, in der "Freiheit" des Selbstmord-Attentats liegt die Gemeinsamkeit mit der deutschen Volksgemeinschaft offen zutage - genaues Gegenteil von Freiheit, wie sie das Recht gewährt.

Exkurs I
Sieht sich in den USA der Souverän ebenso veranlaßt, in die Zirkulationssphäre massiv einzugreifen und mit wachsendem deficit spending als "Großkonsument" (U. Enderwitz) aufzutreten; entsteht also auch hier ein "Staatssubjekt Kapital", das den inneren Markt organisiert, die Preise reguliert und zugleich die internationalen Handelsbeziehungen in neuer Weise regelt - dann werden darum die US-Bürger nicht schon zu Volksgenossen: es erweitern sich nur die Aufgabenbereiche ihres Souveräns, um längerfristig weiterhin Warentausch und Eigentumsrecht, die Verwertung des Werts zu garantieren; dann bildet dieses provisorische "Staatssubjekt Kapital" nur ein Bündel vorübergehender Maßnahmen, die Voraussetzungen für das automatische Subjekt des Kapitals unter ungünstigen Bedingungen zu wahren: das Recht wird in ein technisches Mittel zur Durchsetzung ökonomischer Ziele verwandelt, weil es aber nur ökonomische und nicht politische sind, ist das Mittel immer zugleich auch der Zweck, es verliert darin nicht seine "Resistenzkraft" und "eigene Natur" gegenüber dem Politischen. Die Entscheidung für New Deal war die bloße Entschlossenheit, etwas zur Wiederherstellung der Verwertungsbedingungen zu unternehmen. Indem diese Verwertung grundsätzlich als Selbstzweck anerkannt wird (nicht selten weiterhin wie ursprünglich: im Namen Gottes), bleibt auch der Status des Rechts unangetastet. Die Frage, warum diese Maßnahmen zunächst nicht wirklich die Krise überwinden konnten, warum dazu erst die Aufrüstung und der Einsatz im Krieg, der von Deutschland ausging, imstande war, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Exkurs II
Auch in der Gesellschaft, die aus der Oktoberrevolution hervorging, konnte das Recht gegenüber der Souveränität keine "Resistenzkraft" entwickeln (war doch hier das Privateigentum als die elementare Voraussetzung der Zirkulation abgeschafft oder rigoros eingeschränkt worden) und diente als "ein technisches Mittel zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele". In genau diesem Sinn besaß Paschukanis bereits einen Begriff von Ausnahmezustand, der Kelsen durchaus fehlte: "daß nämlich die Klassengesellschaft nicht nur ein Markt ist, auf dem sich unabhängige Warenbesitzer treffen, sondern zugleich das Schlachtfeld eines erbitterten Klassenkrieges, in dem der Staatsapparat eine sehr mächtige Waffe darstellt". Als würde er Bezug auf Carl Schmitt nehmen, schreibt er zudem, daß diese Waffe unmittelbar in der "theologischen Deutung des Begriffs 'Staatsmacht'" zum Ausdruck komme. Je erbitterter der Klassenkrieg jedoch geführt werde, desto mehr setze sich der zur Waffe gewordene Staatsapparat gegenüber der rechtlich verankerten Unabhängigkeit der Warenbesitzer durch; "desto schneller" verwandle sich "der 'Rechtsstaat' in einen körperlosen Schatten", bis endlich die Bourgeoisie gezwungen sei, "die Maske des Rechtsstaats ganz abzuwerfen und das Wesen der Staatsmacht als der organisierten Gewalt der einen Klasse über die andere zu entlarven". Das ist der Ausnahmezustand in der Perspektive des Staatskommunismus, der nun als neuer Souverän auftritt und seinerseits die Autonomie des Individuums zusammen mit der Maske des Rechtsstaats verwirft. Dieser Übergang von der "Klassenherrschaft der Bourgeoisie" zu der einer Bürokratie, die den Begriff Kommunismus nur noch als Beschönigung verwendet, zeigt sich besonders prägnant in der Frage des Strafrechts: Da die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie Paschukanis weiß, "sich nicht auf die abstrakten Verhältnisse abstrakter Warenbesitzer beschränken", ist auch "das Strafgericht nicht nur eine Verkörperung der abstrakten Rechts­form, sondern eine Waffe des unmittelbaren Klassenkampfes." So wird in der Situation verschärfter Kämpfe "das 'unparteiische' Gericht und seine Rechtsgaranti­en durch eine Organisation unmittelbarer Klassengewalt verdrängt, die sich in ihrem Vorgehen ausschließlich von Erwägungen politischer Zweckmäßigkeit leiten läßt". Gerade diese Erwägungen politischer Zweckmäßigkeit übernimmt dann Paschukanis selbst, wenn er wortwörtlich von "technischen Regeln" spricht, die im Kommunismus an die Stelle des Rechts treten sollten, und damit Repression meint: "Der Zwang als Schutzmaßnahme" der kommunistischen Gesellschaft gegenüber den sie "schädigenden Individuen", sei "reiner Zweckmäßigkeitsakt und kann als solcher durch technische Regeln bestimmt werden. Diese Regeln können mehr oder weniger kompliziert sein, je nachdem der Zweck eine mechanische Beseitigung des gefährlichen Individuums oder dessen Besserung ist." Deutlicher könnte kaum realisiert werden, was Neumann befürchtet, wenn er davon spricht, daß vom Recht nur ein "technisches Mittel" übrigbleibe. Allerdings sollte, so Paschukanis "in diesen Regeln das von der Gesellschaft sich selbst gesteckte Ziel klaren und unmißverständlichen Ausdruck" finden (ebd.). Nun war das Ziel, das die staatskommunistische "Gesellschaft" sich steckte, alles andere als klar und unmißverständlich: permanenter Versuch der Bürokratie, die Funktionen des Kapitals endgültig in eigene Regie nehmen, sich selbst gleichsam für immer an die Stelle des Werts zu setzen. Aber dieser kleine Stellvertreter, der sich als großer Weltgeist fühlte, verpflichtete sich in seiner teleologischen Selbstüberhebung, die Reproduktion der Gesellschaft zu gewährleisten und weiter zu entwickeln (und zwar besser als das Kapital). Und davon konnte sich das politische Ziel, das den Selbstzweck kapitalistischer Verwertung nicht anerkennen wollte, kaum jemals vollständig loslösen; darin behauptete sich - wie verzerrt auch immer - etwas von einer Relation zwischen Mittel und Zweck, die noch in Paschukanis' Begriff der "technischen Regel" zum Ausdruck kommt. Soweit sie erkennbar war, blieb der Unterschied zum NS-Staats erhalten, der die Reproduktion der Gesellschaft zum Zweck der Vernichtung betrieb. Dennoch resultierte die ganze mörderische Barbarei, die dieser sogenannte Sozialismus seit Lenin entfesselte, gerade aus dem Wahn, das Wertgesetz als Mittel zu betrachten und in den Griff zu bekommen und zu diesem Zweck ebenso Vermittlungen abzuschaffen wie andere Formen der Vermittlung zu erfinden. Was sie auch taten, ob sie losschlugen oder stillhielten, diesem 'Mittel' gegenüber mußten die Bürokraten mit ihrem Zweck immer als die Dümmeren dastehen. Darum war ihr Ende anders als das des Nationalsozialismus.

Literatur
Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften Bd. 12. Hg. v. Alfred Schmidt u. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt am Main 1985
Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre [1934]. Aalen 1994
Korsch, Karl: Krise des Marxismus. Schriften 1928-1935. Gesamtausgabe. Hg. v. Michael Buckmiller. Bd. 5 Amsterdam 1996
Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein. Darmstadt-Neuwied 7. Aufl. 1981
Neumann, Franz: Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft. In: Zeitschrift für Sozialforschung 6/1937
Ders.: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 [1942/1944]. Frankfurt am Main 1998
Paschukanis, Eugen: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. [1929] Freiburg 2003
Pohrt, Wolfgang: Durchbruch in die gleiche Richtung. In: Konkret 1/1992
Scheit, Gerhard: Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand. Freiburg 2001
Ders.: Suicide bombing. Über die neuen Formen des Antisemitismus und ihren Zusammenhang mit den alten. In: Context XXI 1/2003
Schmitt, Carl: Politische Theologie. 7. Aufl. Berlin 1996
Tibi, Bassam: Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik. 3. Aufl. München 2002